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„Probleme lassen sich nicht wegoperieren”

Laura Méritt im Interview über weibliche Selbsterforschung. In Berlin stellt sie heute die Neuauflage von „Frauenkörper neu gesehen” vor

l-mag.de 14.12.2012 – 40 Jahre nach der feministischen Gesundheitsbewegung geben Sie das Kultbuch „Frauenkörper  neu gesehen“ wieder heraus. Wozu brauchen wir das Buch heute?
Es ist noch immer das einzige Buch, das die sexuelle Anatomie der Frau verständlich erklärt. Ich krame für meine Kurse oft mein altes Exemplar heraus und werde dann von jungen Frauen gefragt: Wo kriegen wir das Buch her? Auf Amazon wurde es zuletzt zu antiquarischen Preisen gehandelt. Das zeigt, dass Frauen ihren Körper auch heute verstehen wollen, bevor sie die – oft normierende – Meinung eines Gynäkologen einholen. 

War das ein Ziel der Frauen damals: Alternativen zur Schulmedizin zu finden?
Ziel war, Frauen als mündige Patientinnen zu unterstützen. Wenn man seinen Körper kennt, kann man beim Arzt kritisch nachfragen. Aber es ging auch darum, Mythen über weibliche Sexualität zu entlarven. 

Welche Mythen sind das?
Das fängt schon damit an, dass behauptet wird, eine erregte Klitoris könne man nicht zeigen, weil alles versteckt sei. Das gehört zur Ideologie der Frau als schöne Unbekannte. In erster Linie betont man damit die Unterschiede der Geschlechter. Das hat zur Folge, dass die wenigsten Frauen wissen, dass sie eine Prostata haben, die Ejakulat produziert.

Wieso ist das so wenig bekannt?
Das hängt paradoxerweise mit der Forschung des 19. Jahrhunderts zusammen. Im Mittelalter meinte die katholische Kirche, dass weibliche Ejakulation zur Befruchtung nötig wäre. Erst als man entdeckte, dass dafür ein Samen und eine Eizelle reichen, verschwand die weibliche Ejakulation aus den Lehrbüchern. 

Medizinisches Wissen verändert also unsere Körper.
Ja, und manches geht dabei verloren. Der Historiker Thomas Laqueur hat Anatomiebücher untersucht und festgestellt, dass die Klitoris in den letzten zwei Jahrhunderten von einem großen Organ auf eine kleine Eichel geschrumpft ist. Die neue Sicht ist jetzt, dass Menschen mit einer Klitoris nicht immer eine Frau sein müssen. Das verdanken wir der Transgenderbewegung.

Sie sind auch Linguistin. Welche Rolle spielt die Sprache? 
Bei der Benennung der Geschlechtsorgane werden uns Normen buchstäblich auf den Leib geschrieben, etwa mit der Bezeichnung „große und kleine Schamlippen“. Erstens frage ich mich: Wofür sollten wir uns schämen? Zweitens wird impliziert, dass innere Lippen kleiner sein müssen als äußere. Bei den wenigsten Frauen trifft das zu.   

Was haben die Frauen der Gesundheitsbewegung unternommen, um solche Vorstellungen zu widerlegen?  
Sie haben zum Beispiel dieses Buch geschrieben. Es ist ein Produkt der berühmten Selbstinspektionsgruppen. Frauen haben sich hingesetzt und mit Spiegeln untersucht. Wo liegt eigentlich was? Geholfen haben Heilpraktikerinnen und Hebammen mit ihrem „Hexenwissen“. 

Kann Abtasten die medizinische Forschung ersetzen?
Tatsächlich haben die Frauen mit ihren Methoden eine bestimmte Art von Wissenschaftlichkeit hinterfragt. Den Körper erforschen muss nicht nur heißen, wir sezieren einzelne Muskeln. Wir können auch fühlen, was die Muskeln tun. Viele Frauen kennen heute ihren Zyklus gar nicht mehr, sondern nur den der Pille. Zwischen körperlicher und psychischer Verfassung sehen sie keinen Zusammenhang, es sei denn einen, den man mit der Pille bekämpfen kann.

Aber die Pille hat auch eine befreiende Wirkung für die Frau gehabt.
Das stimmt, aber gleichzeitig geben Frauen damit die Kontrolle über ihren Körper ab. An eine pharmakologische Instanz, die sie durchs Leben begleitet. Die Pille wird von vielen ja nicht zur Verhütung eingenommen, sondern sie ist ein Initiationsritual. Damit wird man zur Frau. Außerdem verhindert die Pille Pickel und Gemütsschwankungen. In den Wechseljahren steigen Frauen auf Hormone um, danach lassen sie sich die Gebärmutter entfernen, damit keine Krebsgefahr besteht. Medizin ist immer Befreiung und Entmündigung gleichzeitig.

Wie haben die Selbstuntersuchungen die Schulmedizin verändert?
Es gibt heute stärkere Gender-Ansätze in der Medizin. Man kann sich in Frauengesundheitszentren kritisch beraten lassen. Aber die Verbindung von Sexualität und Gesundheit ist häufig nicht erwünscht. Wenn es um Operationen geht, wenn etwa gegen eine Gebärmuttersenkung das Gewebe gestrafft wird, werden Frauen oft nicht informiert, wie „einschneidend“ wirklich vorgegangen wird. Schwellgewebe und Empfindungsgewebe werden dabei oft zerstört. Unsere Medizin ist noch immer auf einzelne Organe fixiert ist und denkt nicht zusammenhängend.

Welche Antworten hat das Buch auf neue Herausforderungen wie die Intimchirurgie? 
Wir versuchen wie überall zu differenzieren. Ich finde es schwierig, wenn der weibliche Körper für das Begehren des Mannes moduliert wird. Aber Frauen wollen häufig ihre eigene Lust zu steigern. Das Buch schlägt vor, statt sich den G-Punkt aufspritzen zu lassen, einfach mal eine andere Technik zu versuchen. Wir sprechen viel zu selten über unsere sexuellen Vorlieben. Scheinbar muss sich immer zuerst der Körper verändern. 

Wird die Gesundheitsindustrie damit nicht pauschal verurteilt?
Nein, auch Schönheits-OP haben ihre Berechtigung. Aber es ist gut zu wissen, was Begehrlichkeiten schafft und wo man Risiken eingeht. Eine Brustvergrößerung kann selbstbewusst machen, aber sie rettet selten eine kaputte Ehe. Die wenigsten Probleme lassen sich einfach wegoperieren. 
Die Fragen stellte Sarah Schaschek

 

Laura Méritt ist promovierte Linguistin. Gemeinsam mit 12 Autorinnen, darunter Gynäkologinnen und Frauenaktivistinnen, hat sie „Frauenkörper neu gesehen“ überarbeitet. Das Buch wurde erstmals 1981 von feministischen Gesundheitszentren in den USA herausgegeben.

Die Autorinnen stellen das Buch am 14. Dezember um 19.30 Uhr in der Urania vor. 

Laura Méritt (Hg.), Frauenkörper neu gesehen. Ein illustriertes Handbuch. Orlanda-Verlag, Berlin 2012. 200 S., 24,50 Euro.


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